Ernst Schriefl
Der Text stammt aus meinem Buch
„Öko-Bilanz. Ein Versuch einer nüchternen Bestandsaufnahme“ (Books on Demand) und
ist der erste Teil des Kapitels „Bevölkerung - das Wachstum geht weiter. Genug
für die Bedürfnisse aller?“. Dieses Kapitel entstand in einer ersten Version bereits
im November und Dezember 2019. Es sind also die hier verwendeten Zahlen nicht
mehr ganz aktuell, im wesentlichen sind aber die Kernaussagen noch gültig.
Von Mahatma Gandhi stammt das Zitat „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für
jedermanns Gier.“[1]
Dieses berühmte Zitat wird auch in der Nachhaltigkeits-Szene gern verwendet,
beschwört es doch ein romantisches, einfaches Bild der Nachhaltigkeit. Doch
gibt es ein realistisches Bild wieder?
1950, also zwei Jahre nach Gandhis Tod, lebten etwa 2,52 Mrd. Menschen
auf der Erde[2], im
Mai 2020 waren es bereits etwa 7,8 Milliarden[3].
In nur 70 Jahren hat sich also die Weltbevölkerung mehr als verdreifacht.
Nehmen wir an, zu Gandhis Zeiten hätte seine berühmte Aussage gerade noch
gestimmt. Stimmt sie aber auch noch in einer Welt, in der dreimal so viele
Menschen leben? Und auch in einer Welt, in der in nicht allzu ferner Zukunft
vielleicht 9, 10 oder 11 Milliarden Menschen
leben werden?
Und was heißt eigentlich „jedermanns Bedürfnisse“? Wenn man beobachtet,
wie sich „Bedürfnisse“, also das, was als gesellschaftlich legitimierter materieller
Mindest- oder Durchschnittsstandard gesehen wird, verändert haben, ist klar,
dass sich diese mit dem technologischen Entwicklungsstand einer Gesellschaft
rasch mitverändern. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele (von denen hier nur
einzelne herausgegriffen sind): Während vor 50 Jahren Computer noch
unerschwinglich waren, ist es heute selbstverständlich, dass sich jeder (oder
fast jeder, zumindest in weiten Teilen der Welt) zumindest einen
Laptop-Computer leisten kann, und einen zu besitzen, gilt nicht als Ausdruck
besonderer Gier. Als Michail Gorbatschow 1987 während einer Pressekonferenz ein
„Mobira Cityman 900“ benutzte – eines der ersten Mobiltelefone, das diesen
Namen auch verdiente – erregte das noch Aufsehen[4].
Heute sind Mobiltelefone beziehungsweise deren Nachfolger, die Smartphones, zu
den selbstverständlichsten Alltagsgegenständen überhaupt geworden, und das
praktisch weltweit, also auch in den nicht so begüterten Weltregionen.
Wenn wir den materiellen Lebensstandard eines Europäers der unteren
Mittelschicht, also einer Person, die in ihrer Gesellschaft nicht als reich und
schon gar nicht als gierig gilt, die möglicherweise sogar nach dem Maßstab
ihrer Gesellschaft als arm eingestuft wird, aber nicht von drückender Armut
betroffen ist und deren materielle Grundbedürfnisse abgesichert sind, als
Maßstab heranziehen – lässt sich dieser Lebensstandard wirklich so einfach auf
7,8 Mrd. Menschen übertragen, oder gar auf 9, 10 oder 11 Milliarden?
Möglicherweise noch vom Gandhi-Zitat inspiriert – bewusst oder unbewusst
– wird von hiesigen Umweltorganisationen die Bedeutung des
Bevölkerungswachstums für die globale ökologische, soziale und politische
Belastung oft heruntergespielt. Ein Beispiel dafür findet sich in einer
E-Mailaussendung der „Plattform Footprint“ in der Vorbereitung auf den „Earth
Overshoot Day 2018“[5]:
„Interessant
ist, dass sich – meinem Eindruck nach – zunehmend Organisationen stärker ins
Bild setzen, die ihren Fokus auf Kritik am Bevölkerungswachstum setzen.
Letzteres bleibt zwar eine mittelfristige Herausforderung, ist in der aktuellen
Debatte (Paris Ziele, 2050 „goals“ etc.) aber nur für einige wenige
Schwellen-Länder von Bedeutung, die am globalen Overshoot allerdings sehr
geringen Anteil haben. Dieser Fokus verschleiert die grundsätzliche Debatte
über den zukunftsunfähigen Lebensstil in den reichen Ländern und
Gesellschaftsschichten – und ist wohl auch so gewollt.“
Der sicher berechtigte Befund eines „zukunftsunfähigen Lebensstil in den
reichen Ländern und Gesellschaftsschichten“ wird in der Nachhaltigkeits-Szene
gerne mit dem Narrativ des „armen, ausgebeuteten Südens“ ergänzt, der damit in
eine Opferrolle gedrängt wird und für seine Misere nicht oder fast nicht
mitverantwortlich sei – dazu ein Zitat aus der Aussendung zum Welterschöpfungstag
2017[6]:
„Besonders vom Overshoot betroffen sind die Länder des Südens, die meist am
wenigsten dazu beitragen. Ihnen fehlen die finanziellen Mittel, um die
fehlenden Ressourcen und Naturleistungen zukaufen zu können. „Unsere Freiheit,
einen ressourcenintensiven Lebensstil auf Kosten des Planeten zu wählen, endet
dort, wo sie die Freiheit anderer Erdenbürger beschneidet, ein menschenwürdiges
Leben zu leben – oder überhaupt zu überleben!“ sollte die goldene Regel global
neu formuliert werden.“
Könnte man aber nicht dem Stehsatz „Unser Lebensstil geht sich nicht
aus.“ mit mindestens genau so großer Berechtigung die Aussage „Euer
Reproduktionsstil geht sich nicht aus.“ hinzufügen? Meine grundlegende These
dazu ist, dass in jenen Ländern, die von hohen Geburtenraten und hohem
Bevölkerungswachstum geprägt sind, diese Phänomene deren größtes strukturelles
Problem sind und es dort keine Aussicht auf eine spürbare Verbesserung der
Verhältnisse gibt, solange sich das nicht ändert. Die sogenannten „Armen“ sind
eben nicht nur arme, hilflose Opfer, sie sind genauso Mittäter – auch wenn sie
sich dessen möglicherweise nicht bewusst sind.
Nähern wir uns dem vielschichtigen Thema der
Bevölkerungsentwicklung mit einer kurzen Übersicht der Faktenlage. Während mehr
als 99 Prozent der Menschheitsgeschichte wuchs die Größe der menschlichen
Bevölkerung zwar, aber sie wuchs vergleichsweise sehr langsam. In vormodernen
agrarischen Gesellschaften standen hohen Geburtenraten hohe Sterberaten
gegenüber. Von den zahlreichen Kindern, die im Schnitt eine Frau gebar,
erreichten nur wenige das Erwachsenenalter, die Lebenserwartung war insgesamt
deutlich niedriger. Das war bis weit ins 18. Jahrhundert so. Erst im 19.
Jahrhundert, und dann noch ausgeprägter im 20. Jahrhundert begannen sich die
Verhältnisse deutlich zu verändern und es erfolgte ein „Take-Off“ der
Weltbevölkerung mit bislang ungekannten Zuwächsen. Ein Zustand, der, wenn auch
leicht gebremst, noch immer andauert.
Es dauerte fast die ganze Menschheitsgeschichte, nämlich bis ins Jahr
1804, bis die Weltbevölkerung auf eine Milliarde Menschen anwuchs. Für die
zweite Milliarde brauchte es dann nur mehr etwas mehr als ein Jahrhundert, 1927
wurde dieser Wert erreicht. Danach ging es Schlag auf Schlag, der Zeitraum bis
zur nächsten Milliarde wurde immer kürzer[7]:
1960
(nach 33 Jahren): 3 Milliarden
1974
(nach 14 Jahren): 4 Milliarden
1987
(nach 13 Jahren): 5 Milliarden
1999
(nach 12 Jahren): 6 Milliarden
2011
(nach 12 Jahren): 7 Milliarden
2022
(nach 11 Jahren): 8 Milliarden.
Seit dem Erreichen der 7 Milliarden-Marke im Jahr 2011 betrug
das Wachstum der Weltbevölkerung pro Jahr etwa 90 Millionen Menschen. Um sich
diese Zahl vorstellen zu können, hilft es, sie in Beziehung zu bekannten Größen
zu setzen: Das jährliche Wachstum der Weltbevölkerung entspricht etwa 10-mal
der Bevölkerungszahl Österreichs (9,2 Mio. Einwohner) oder einmal der
Deutschlands (84,7 Mio. Einwohner). Salopp formuliert, werden also pro Jahr
zehn Österreichs oder ein Deutschland zur Welt hinzugefügt, zumindest auf die
Bevölkerungszahl bezogen.
Das Wachstum der Bevölkerung findet hauptsächlich in Entwicklungs- und
Schwellenländern statt: in Teilen Südostasiens (Indien, Pakistan, Bangladesch,
Indonesien), in der gesamten arabisch-muslimischen Welt (Naher Osten,
Nordafrika) sowie in Subsahara-Afrika. In weiten Teilen der übrigen Welt
(Europa, Nordamerika, Russland, China, Australien, die entwickelteren Länder
Asiens) findet nur mehr ein sehr gedämpftes Wachstum der Bevölkerung statt, in
einigen Ländern schrumpft die Bevölkerung bereits (beispielsweise in Japan oder
in vielen Staaten des ehemaligen Ostblocks). Dort, wo in den reicheren Teilen
der Welt die Bevölkerung noch wächst, ist das vor allem der Zuwanderung
geschuldet.
Wie könnte es nun weitergehen mit der Entwicklung der
Weltbevölkerung? Wird das Wachstum zu einem Ende kommen und wenn ja, wann? Die
Welt befindet sich auch diesbezüglich in einem Prozess eines starken Wandels.
In den letzten Jahrzehnten sind in vielen Ländern die Geburtenraten rasch und
deutlich gesunken. In weiten Teilen der Welt sind die Geburtenraten bereits
unter das „population replacement level“[8]
von 2,1 Kindern pro Frau gefallen. Das ist jenes Niveau, das eine langfristig
stabile Bevökerungszahl garantiert – beziehungsweise beginnt die Bevölkerung zu
schrumpfen, wenn dieses Niveau längere Zeit unterschritten wird, es sei denn,
die Schrumpfung wird durch Zuwanderung ausgeglichen.
Eine Analyse der im CIA Factbook 2016 veröffentlichten Daten zu
Fertilitätsraten[9]
zeigt, dass in 102 Ländern die Fertilitätsrate über 2,1 lag, während diese in
99 Ländern unter 2,1 lag[10].
Der Weltdurchschnitt lag 2016 bei 2,41 Geburten pro Frau. Ein Blick auf die Top
50 (d.h. die 50 Länder mit den höchsten Fertilitätsraten) zeigt rasch, wo die
größten Problemzonen eines ausufernden Bevölkerungswachstums liegen: in
Subsahara-Afrika und in weiten Teilen der muslimischen Welt, wobei es hier eine
Schnittmenge gibt (ein Teil der Länder in Subsahara-Afrika hat eine muslimische
Bevölkerungsmehrheit und einige Länder sind diesbezüglich an der Kippe, das
heißt, hier sind Muslime daran oder knapp davor, die Bevölkerungsmehrheit zu
erreichen).
Unter diesen Top 50 Ländern liegen 41 Länder in Subsahara-Afrika, 6
Länder in der muslimischen Welt außerhalb Sübsahara-Afrikas (Afghanistan, Irak,
Palästina, Jemen, Ägypten, Jordanien), nur drei Länder sind nicht diesen
Regionen zuzuordnen (es handelt sich dabei um die relativ kleinen Inselstaaten
Osttimor, Salomonen und Tonga, welche in Summe von weniger als 2 Mio. Menschen
bewohnt werden). Angeführt wird diese Rangliste von Niger (liegt in
Subsahara-Afrika und ist muslimisch dominiert) mit einer Fertilitätsrate von
6,62, am anderen Ende der Skala liegt Singapur mit einer Fertilitätsrate von
0,82.
Es gibt Länder, in denen bereits ein sehr rascher demographischer
Übergang[11]
stattgefunden hat, in anderen Ländern hingegen geht dieser Prozess nur sehr
langsam und zäh vonstatten. So lag beispielsweise in Taiwan Anfang der
1950er-Jahre die Fertilitätsrate noch bei 6,72 und ist mittlerweile auf 1,11
gefallen. In Afghanistan hingegen ist dieser Wert von 7,45 Anfang der
1950er-Jahre erst auf 5,26 gefallen und damit nach wie vor auf einem sehr hohen
Niveau[12].
Ist es einer zufälligen Koinzidenz geschuldet, dass viele permanente
Krisenherde wie Afghanistan, Irak, Jemen oder Palästina auch gleichzeitig
Länder mit sehr hohen Geburtsraten und hohem Bevölkerungswachstum sind? Ich
denke (und bin damit nicht der einzige), dass hier sehr wohl ein Zusammenhang
besteht. In all diesen Ländern gibt es eine sehr große junge Bevölkerung mit
geringen Perspektiven (einen sogenannten „youth bulge“[13]),
welche für Fundamentalismen aller Art leicht anfällig ist und sich vermutlich
auch für beliebige Milizen leicht rekrutieren lässt. Der Teufelskreis der
Unterentwicklung und Perspektivlosigkeit wird durch eine nach wie vor hohe
Geburtenrate ständig befeuert.
Die Population Division im Department of Economic and Social
Affairs der United Nations (UN) veröffentlicht regelmäßig Szenarien über die zukünftige
Entwicklung der Weltbevölkerung, zuletzt die „World Population Prospects 2019“[14].
Diesen Szenarien, welche bis zum Jahr 2100 reichen, liegen regional und nach
Ländern differenzierte Annahmen über Fertilitätsraten, Lebenserwartung und
Wanderungsbewegungen zugrunde. Die mittlere Variante der UN-Szenarien kommt zum
Ergebnis, dass bis zum Jahr 2100 die Weltbevölkerung auf 10,9 Milliarden
Menschen anwachsen könnte[15].
Die Hot-Spots der Bevölkerungszunahme liegen in den Regionen Sub-Sahara
Afrika, Nordafrika und Westasien, Zentral- und Südasien. In vielen anderen
Regionen (Europa, östliches und südöstliches Asien) sinkt die Bevölkerung oder
erreicht nach einem temporären weiteren Wachstum im Jahr 2100 wieder in etwa
das momentane Niveau (wie in Lateinamerika). Die einzigen Regionen, die den
OECD-Ländern zugeordnet sind und für die ein nennenswertes Bevölkerungswachstum
prognostiziert wird, sind Nordamerika (USA, Kanada) und Australien. Hier ist
aber das Wachstum in erster Linie der Zuwanderung geschuldet[16].
Indien überholt China bereits 2030 oder früher und wird dann das
bevölkerungsreichste Land der Welt. Aber auch in Indien findet gemäß dem
mittleren UN-Szenario ein merkbarer demographischer Übergang statt, die
Bevölkerungszahl erreicht um 2060 einen Höhepunkt und sinkt bis 2100 wieder auf
das Niveau von etwa 2025[17].
Neben der Beschreibung des mittleren Szenarios gibt die Population
Division der UN auch eine Bandbreite der zukünftigen Bevölkerungs dentwicklung
an. Gemäß den Annahmen der UN wird die Weltbevölkerung im Jahr 2100 mit einer
Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent zwischen 9,4 Mrd. Menschen („unteres
Szenario“) und 12,7 Mrd. Menschen („oberes Szenario“) liegen. Während im oberen
Szenario das Wachstum der Weltbevölkerung nur mäßig gedämpft voranschreitet,
ist im unteren Szenario bereits eine Trendumkehr zu beobachten: In diesem
Szenario erreicht die Weltbevölkerung etwa 2070 ein Maximum bei 9,74 Mrd.
Menschen und beginnt von da an zu schrumpfen, um 2100 einen Wert von 9,42 Mrd.
Menschen zu erreichen.
Besonders dramatisch ist in allen UN-Szenarien die Bevölkerungs-zunahme
in Subsahara-Afrika. Selbst im unteren UN-Szenario verdrei-facht sich dort in
etwa die Bevölkerung bis 2100 (von 1,07 Mrd. auf 2,97 Mrd. Menschen). Im
mittleren Szenario erreicht die Bevölkerung Subsahara-Afrikas im Jahr 2100 eine
Größe von 3,78 Mrd. Menschen, im oberen Szenario gar 4,78 Mrd. Menschen. Zum
Vergleich: Im Jahr 1974 betrug die Größe der gesamten Weltbevölkerung 4 Mrd.
Menschen.
Eine Verdrei- oder Vervierfachung der Bevölkerung in Subsahara-Afrika bis
2100 würde ich schlicht als katastrophal bezeichnen, dieser Umstand ist für
mich nur als schier endloses humanitäres Desaster vorstellbar. Hinzu kommen
noch die Auswirkungen des Klimawandels, die mit großer Wahrscheinlichkeit große
Teile Afrikas besonders stark treffen werden. In diese humanitäre Katastrophe,
die uns hier bevorsteht, wird aber auch Europa unweigerlich mithineingezogen
(die nicht enden wollenden Berichte über Bootsflüchtlinge können als Vorboten
dessen gesehen werden). Der Migrationsdruck auf Europa wird enorm, und die
Frage ist, ob ein alterndes und ideologisch schwer gespaltenes Europa darauf in
irgendeiner Weise adäquat reagieren kann oder einfach in den Strudel der
Ereignisse hineingesogen wird.
Die Region, für die das zweitgrößte Bevölkerungswachstum prognostiziert wird, ist Nordafrika und Westasien. Diese Region ist weitgehend ident mit der arabisch-muslimischen Welt, reichend von Marokko im Nordwesten Afrikas bis zum Irak als östlichstem Staat dieser Region. Bis auf vier kleinere Länder (Armenien, Zypern, Georgien, Israel) sind alle Länder dieser Region mehrheitlich von Muslimen bewohnt. Im mittleren UN-Szenario wächst die Bevölkerung in dieser Region von 517 Mio. (2019) auf 928 Mio. Menschen im Jahr 2100. Dieses Wachstum von etwa 80 Prozent ist insofern als dramatisch zu werten, als diese Region ohnehin von Krisen, Kriegen und Instabilitäten gezeichnet ist, und ein weiteres Bevölkerungswachstum sicher nicht zur Entspannung der Lage beiträgt. Auch von dieser Region geht ein starker Migrationsdruck auf Europa aus.
Zentral- und Südasien ist die Region, für die der drittgrößte Bevölkerungszuwachs prognostiziert wird. Diese Region wird von Indien bevölkerungsmäßig dominiert (2019 lebten mit 1,36 Mrd. Menschen 69 Prozent aller Einwohner dieser Region in Indien). Ansonsten besteht diese 14 Länder umfassende Region überwiegend aus muslimischen Ländern (u.a. Pakistan, Bangladesch, Iran, Afghanistan), auch in Indien leben 195 Mio. Muslime[18] und stellen somit eine bedeutende Minderheit dar. Im mittleren UN-Szenario wird in dieser Region etwa 2060 das Bevölkerungsmaximum erreicht und 2100 sinkt die Bevölkerungszahl wieder auf den Wert von etwa 2035. Dies unterscheidet diese Region von den beiden anderen oben erwähnten Regionen - diese erreichen (zumindest gemäß dem mittleren UN-Szenario) kein Bevölkerungsmaximum vor dem Jahr 2100.
Es gibt auch Kritik an
den UN-Szenarien zur globalen Bevölkerungsentwicklung. Diese würden von zu
hohen Fertilitätsraten ausgehen und die Dynamik eines durch Urbanisierung
getriebenen veränderten Reproduktionsverhaltens unterschätzen. Diese These wird
beispielsweise in dem 2019 erschienenen Buch „Empty Planet. The Shock of Global
Population Decline“ von den Kanadiern Darrell Bricker und John Ibbitson
vertreten[19].
Ihre Prognose besagt, dass die Weltbevölkerung um die Mitte dieses Jahrhunderts
ihr Maximum erreichen wird (bei einem Wert zwischen 8 und 9 Mrd. Menschen) und
danach bis zum Ende des 21. Jahrhunderts wieder auf in etwa das derzeitige
Niveau (oder eventuell auch etwas darunter, auf ca. 7 Mrd. Menschen) absinken
wird[20].
Eine Schlüsselrolle für diese Entwicklung spielt die Urbanisierung, die
stets und auch in Entwicklungsländern immer mehr voranschreitet. Bricker und
Ibbitson benennen vier Veränderungen, die mit der Urbanisierung in
Entwicklungsländern einhergehen und zu einem raschen Sinken der
Fertilitätsraten führen können: Kinder werden von nützlichen Arbeitskräften in
der Landwirtschaft zu einer finanziellen Belastung in der Stadt; das
Bildungsangebot und insbesondere das Bildungsniveau von Frauen steigt; der
Einfluss von Religionen (die oft explizit oder implizit kinderreiche Familien
befürworten und fördern) sinkt; der Einfluss von Familienclans (die ebenfalls
Druck in Richtung früher Verheiratung und hoher Kinderzahlen ausüben können)
sinkt[21].
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Jorgen Randers, der im Jahr 2012 mit
seinem Buch „2052“ eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre (von 2012
bis 2052) vorgelegt hat[22].
Wie Bricker und Ibbitson geht auch er davon aus, dass rasch fortschreitende
Urbanisierung und ein damit einhergehendes höheres Bildungsniveau von Frauen zu
einem raschen Absinken der Geburtenraten weltweit führen wird. Gemäß Randers
wäre dann bereits um das Jahr 2040 ein globales Bevölkerungsmaximum bei 8,1
Mrd. Menschen erreicht und 2075 würde die Weltbevölkerung wieder auf eine Zahl
von 7 Mrd. Menschen abgesunken sein[23].
Die Prognose von Randers ist aber nach heutigem Stand bereits als überholt zu
werten. So geht er für das Jahr 2025 von einer Bevölkerungszahl von 7,74 Mrd.
Menschen[24] aus
– ein Wert, der aber bereits 2020 überschritten wurde.
Wer wird nun Recht behalten? Die Population Division der UN mit ihren
eher konservativen Annahmen, was die Entwicklung der Fertilitätsraten betrifft,
oder Kritiker dieser Annahmen wie Bricker, Ibbitson und Randers? Wie die
bisherigen Ausführungen zeigen, hängt es vor allem von den Entwicklungen in
Subsahara-Afrika und der muslimischen Welt ab (wobei es hier – wie ebenfalls
bereits erwähnt – eine nennenswerte Schnittmenge gibt), wie lange das Wachstum
der Weltbevölkerung noch andauern oder ob es bereits in wenigen Jahrzehnten zu
einem Ende kommen wird. Wie schnell wird sich der demographische Wandel in den
Problemregionen vollziehen? Werden sich die dort lebenden Bevölkerungsgruppen
den global sonst vorherrschenden Trends, was das Reproduktionsverhalten
betrifft, relativ rasch anpassen, oder werden sie „jetzt erst recht“ in einer
religiös und kulturell motivierten Verstocktheit in ihren vormodernen
Reproduktionsmustern verharren?
Es könnte also durchaus sein, dass Autoren wie Bricker, Ibbitson oder Randers den irrationalen Einfluss religiös-konservativer oder gar fundamentalistischer Werthaltungen unterschätzen. Beispielsweise mag die Aussage von Bricker und Ibbitson, dass sich Migranten in ihrem Reproduktionsverhalten an die Gesellschaft anpassen, in die sie eingewandert sind, für jene wohl ausgewählten Migranten, die Kanada ins Land holt (welche in der Regel auch ein höheres Bildungsniveau als die restliche Bevölkerung aufweisen), stimmen. Für die nach Europa eingewanderten Muslime stimmt sie aber zum Großteil nicht – im Schnitt liegt deren Fertilitätsrate um ein Kind pro Frau höher als in der restlichen Bevölkerung[25].
Eines ist auf jeden Fall klar – von einem leeren Planeten, einem „empty
planet“, kann noch lange keine Rede sein. Selbst im Szenario von Bricker und
Ibbitson wird das 21. Jahrhundert jenes sein, das mit Abstand mit dem „vollsten
Planeten“, den es jemals in der Menschheitsgeschichte gab, einhergeht. Der
Titel „Empty Planet“ ist wohl bewußt reißerisch und somit auch irreführend
gewählt, und verleitet relativ ahnungslose Journalisten dazu, gleich die große
Entwarnung auszurufen[26].
Literatur
Bricker Darrell, Ibbitson John (2019): Empty Planet: The Shock of Global Population Decline, Verlag Robinson
Pew
Research Center (2017): Europe's Growing Muslim Population,
https://www.pewforum.org/wp-content/uploads/sites/7/2017/11/FULL-REPORT-FOR-WEB-POSTING.pdf
(abgerufen am 26.12.2020)
Randers
Jorgen (2012): 2052. Der neue Bericht an den Club of Rome: Eine globale
Prognose für die nächsten 40 Jahre, Oekom Verlag, München
United
Nations, Department of Economic and Social Affairs, Population Division
(2019a): World Population Prospects 2019. Highlights,
https://population.un.org/wpp/Publications/Files/WPP2019_Highlights.pdf
(abgerufen am 26.12.2020)
United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Population Division (2019b): World Population Prospects 2019. Volume I: Compre-hensive Tables, https://population.un.org/wpp/Publications/Files/WPP2019_Volume-I_Comprehensive-Tables.pdf (abgerufen am 26.12.2020)
[1] https://www.zitate-online.de/sprueche/historische-personen/818/die-welt-hat-genug-fuer-jedermanns-beduerfnisse.html
(abgerufen am 1.2.2021)
[2] „Jährlicher Stand der Weltbevölkerung 1950 bis 2100“,
http://pdwb.de/nd02.htm (abgerufen am 2.2.2021)
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Weltbevölkerung (abgerufen am
26.12.2020)
[4] „Die Geschichte der Mobiltelefone“,
https://www.wissen.de/die-geschichte-der-mobiltelefone (abgerufen am
23.11.2019); Wikipedia Artikel zu „Mobira Cityman 900“,
https://en.wikipedia.org/wiki/Mobira_Cityman_900 (abgerufen am 23.11.2019)
[5] E-Mail Aussendung vom 10.7.2018
[6] Gemeinsame Presseaussendung von Plattform Footprint, WWF und Global
2000 zum Welterschöpfungstag am 2. August 2017.
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Weltbevölkerung (abgerufen am 2.3.2025)
[8] deutsch: „Ersatzniveau der Fertilität“
[9] Definition Fertilitätsrate: „Die zusammengefasste
Fruchtbarkeitsziffer bzw. Fertilitätsrate ist ein in der Demografie verwendetes
Maß, das angibt, wie viele Kinder eine Frau durchschnittlich im Laufe des
Lebens hätte, wenn die zu einem einheitlichen Zeitpunkt ermittelten
altersspezifischen Fruchtbarkeitsziffern für den gesamten Zeitraum ihrer
fruchtbaren Lebensphase gelten würden. Sie wird ermittelt, indem die
altersspezifischen Fruchtbarkeitsziffern summiert und durch 1000 geteilt
werden.“; Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Gesamtfertilitätsrate
(abgerufen am 3.2.2021).
[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Länder_nach_Geburtenrate
(abgerufen am 8.12.2019)
[11] „Der Begriff demografischer Übergang (englisch demographic transition)
oder demografische Transformation beschreibt in der Demografie einen typischen
Verlauf der Bevölkerungsentwicklung von Staaten bzw. Gesellschaften in mehreren
Phasen. Dabei sinkt zuerst die Sterberate und dann zeitlich versetzt die
Geburtenrate.“; Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Demografischer_Übergang
(abgerufen am 3.2.2021)
[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Länder_nach_Geburtenrate (abgerufen
am 8.12.2019)
[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Youth_Bulge (abgerufen am 8.12.2019)
[14] United Nations, Department of
Economic and Social Affairs, Population Division (2019a)
[15] ebd., S. 5
[16] United Nations, Department of
Economic and Social Affairs, Population Division (2019b), S. 29, 33. Sofern nicht anders vermerkt, stammen die Zahlen zu den UN-Szenarien
im Folgenden aus dieser Quelle.
[17] ebd., S. 27
[18] https://en.wikipedia.org/wiki/Islam_by_country (abgerufen am
15.12.2019)
[19] Bricker/Ibbitson (2019)
[20] „Driving Impact in a Changing
World: Empty Planet, The Shock of Global Population Decline“;
https://www.youtube.com/watch?v=0XZhTLH857c (abgerufen am 26.12.2020)
[21] „Urbanization plays an important
role in shifting population rates — Darrell Bricker & John Ibbitson“,
https://www.youtube.com/watch?v=k5PzUzp-o10 (abgerufen am 26.12.2020)
[22] Randers (2012)
[23] ebd., S. 89
[24] Siehe: http://www.2052.info/data/ (abgerufen am 22.12.2019); hier
kann eine Excel-Spreadsheet Datei mit den Berechungsannahmen und -ergebnissen
des Szenarios von Randers heruntergeladen werden.
[25] Pew Research Center (2017), S. 5
[26] Zum Beispiel mit der Schlagzeile „Es ist noch viel Platz auf unserem Planeten“, von Michael Zöller, Frankfurter Allgemeine, vom 5.8.2019; https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/empty-planet-so-entwickelt-sich-die-weltbevoelkerung-16317846.html (abgerufen am 22.12.2019)
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