Sonntag, 3. November 2024

Die IPAT Formel - Kurze Geschichte und Bedeutung einer wichtigen Formel

Dieser Beitrag ist ein leicht adaptiertes Kapitel aus meinem Buch „Öko-Bilanz. Wo wir stehen, was zu tun wäre, wohin wir steuern. Ein Versuch einer nüchternen Bestandsaufnahme“ (2021, Books on Demand).

Ernst Schriefl


Anfang der 1970er-Jahre gab es in den USA in einer Ära aufkeimenden Umweltbewusstseins eine Debatte darüber, welche Einflussfaktoren am stärksten die damals zunehmend als Problem wahrgenommene Umweltverschmutzung erklären konnten. Barry Commoner, mit dem 1971 erschienenen Buch „The Closing Circle“, einem wesentlichen Werk der frühen Umweltbewegung, bekannt geworden [1], argumentierte, dass es vor allem an einer „schmutzigen“ (polluting) Technologie läge und diese für den Großteil der in der Nachkriegszeit stark gewachsenen Umweltverschmutzung verantwortlich sei. Er hatte, um den Einfluss der ökologisch problematischen Nachkriegstechnologien zu veranschaulichen, argumentiert, dass diese Technologien für 95 Prozent der damals offensichtlich gewordenen Umweltprobleme verantwortlich seien [2].

Dem hielten in einem 1972 veröffentlichten Debattenbeitrag Paul Ehrlich und John Holdren entgegen, dass die Bevölkerungsgröße und der materielle Wohlstand mindestens genau so wichtige, wenn nicht bedeutendere Einflussgrößen wären [3] (Paul Ehrlich war davor bereits mit „The Population Bomb“ bekannt geworden, ein ebenfalls sehr bedeutsamer Beitrag der frühen ökologischen Debatte [4]).

Sie prägten in diesem Beitrag zum ersten Mal die Formel I = P * A * T, eine Formel, die zumindest in Kreisen ökologisch Interessierter eine gewisse Berühmtheit erlangte. I steht für Human Impact on the Environment, P für Population, A für Affluence, und T für Technology. Diese Formel drückt aus, dass sich die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die natürliche Umwelt (= I, human impact on the environment) als Produkt von drei Faktoren beschreiben lassen: der Bevölkerungsgröße (P), dem materiellen Reichtum pro Kopf (A wie Affluence, bedeutet übersetzt: Wohlstand, Reichtum, Überfluss), und der Technologie (T).

Die Formel lässt sich beispielsweise so verstehen: Je größer die Bevölkerung, je größer der materielle Reichtum pro Kopf und je „schmutziger“ bzw. umweltbelastender die Technologie (im Schnitt) ist, desto größer ist der negative Einfluss menschlicher Aktivitäten auf die natürliche Umwelt.

Eine präzisere Formulierung der IPAT-Formel besteht in der Form:

Environmental Impact (I) = Population x (GDP per person) x (Environmental Impact per unit of GDP) bzw. übersetzt:

Umweltauswirkungen = Bevölkerungsgröße x (BIP pro Person) x (Umweltauswirkungen pro Einheit des BIP).

Der „Environmental Impact“ (I) bzw. die Umweltauswirkungen können durch verschiedene Größen beschrieben werden, wie beispielsweise durch kumulierte CO2-Emissionen oder den Ökologischen Fußabdruck. Der Faktor A (Affluence) wird in obiger Formel durch die Wirtschaftsleistung bzw. das BIP (Bruttoinlandsprodukt) pro Person ausgedrückt, der Faktor T (Technologie) durch die Umweltauswirkungen pro Einheit des BIP, also beispielsweise CO2-Emissionen pro Einheit des BIP, falls diese als Maß für die Bewertung der Umweltauswirkungen herangezogen werden.

Dieser Technologiefaktor lässt sich auch als Maß für die technische Effizienz auffassen – falls der Wert dieses Faktors sinkt, werden die Umweltauswirkungen pro Wirtschaftsleistung reduziert, die Wirtschaft wird also in dieser Hinsicht effizienter und kann den gleichen materiellen Wohlstand mit weniger Umweltauswirkungen beziehungsweise Ressourcenverbrauch herstellen.


Während der Technologie zunächst der Schwarze Peter zugeschoben wurde (wie auch Barry Commoner in „The Closing Circle“ argumentierte), wandelte sich die Bewertung der Technologie im Laufe der nächsten Jahrzehnte immer mehr ins Positive. Diese wurde zum Hoffnungsträger, wohl auch beflügelt durch erste Erfolge auf dem Gebiet des technischen Umweltschutzes (wie die Entwicklung des Abgaskatalysators).

Da eine Einflussnahme auf die Bevölkerungsgröße beziehungsweise auf die Geburtenrate als sehr unpopulär und restriktiv gilt (unter anderem, weil dies als besonders gravierende Einschränkung der persönlichen Freiheit empfunden wird) und es auch in der Regel erwünscht ist, dass der Wohlstand pro Kopf wachse (insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern), richteten sich Fokus und Hoffnung immer mehr auf die Technologie.

Diese Rolle der Technologie als Hoffnungsträger wird auch in einer Publikation wie „Faktor Vier. Doppelter Wohlstand – halbierter Naturverbrauch“ [5] oder dem Nachfolgewerk „Faktor Fünf. Die Formel für nachhaltiges Wachstum“ [6] deutlich veranschaulicht. Hier wird anhand zahlreicher Beispiele gezeigt, dass die technische Effizienz beziehungsweise die Ressourcenproduktivität drastisch verbessert werden könnte, nämlich um einen Faktor 4 oder 5. Das heißt, dass es möglich sein sollte, den gleichen Wohlstand, den gleichen Nutzen mit deutlich weniger Einsatz von Energie und Rohstoffen zu erzeugen (eben mit einem Viertel oder einem Fünftel). Ob die Technologie diese Rolle als Hoffnungsträger einlösen kann, ist jedoch höchst fraglich – insbesondere in dem optimistischen Sinn, wie Weizsäcker und Lovins dies meinen (damit beschäftigen sich auch einige Beiträge in diesem Blog).


In einem Rückblick („The History of IPAT“) hebt John Holdren hervor, dass er und Paul Ehrlich bereits zu Beginn der Debatte Anfang der 1970er-Jahre auf eine ausgewogene Sichtweise Wert gelegt hatten [7]:

Darin vertraten wir die Position, dass ALLE Faktoren (Bevölkerung, Wohlstand, Technologie, sozioökonomische Variablen) wichtig sind, dass sie zusammenwirken und dass die Vernachlässigung eines dieser Faktoren oder ihrer Wechselwirkungen gefährlich ist. Hier sind einige Zitate aus unserem Paper von damals:

„Probleme der Bevölkerungsgröße und des Bevölkerungswachstums, der Ressourcennutzung und -erschöpfung und der Umweltzerstörung müssen gemeinsam und auf globaler Basis betrachtet werden. In diesem Zusammenhang ist die Bevölkerungskontrolle offensichtlich kein Allheilmittel – sie ist notwendig, aber allein nicht ausreichend, um uns durch die Krise zu führen. […] Es ist an der Zeit zuzugeben, dass es keine monolithischen Lösungen für die Probleme gibt, mit denen wir konfrontiert sind. In der Tat müssen, wenn es eine erstrebenswerte Zukunft geben soll, ALLE im Folgenden genannten Ziele erreicht werden: Bevölkerungskontrolle, die Neuausrichtung der Technologie, der Übergang von offenen zu geschlossenen Ressourcenkreisläufen und die gerechte Verteilung von Chancen und des Wohlstands. Ein Scheitern in einem dieser Bereiche wird mit Sicherheit das ganze Unterfangen sabotieren.““


In der Tradition von Ehrlich und Holdren gehe ich (bzw. gehen wir) von der Grundannahme aus, dass sich alle drei Einflussgrößen der IPAT-Formel (Population, Affluence, Technology) in eine günstige Richtung entwickeln müssen, damit wir tatsächlich „Nachhaltigkeit“ oder zumindest eine klare Trendwende in eine ökologisch nachhaltigere Richtung erreichen können. Beziehungsweise können Maßnahmen- oder Politikvorschläge danach bewertet werden, inwieweit sie P, A und T beeinflussen.

 

 

Literatur

Commoner Bary (1971): The Closing Circle. Nature, Man, and Technology, Alfred A. Knopf, New York

Ehrlich Paul (1968): The Population Bomb, Ballantine Books, New York

Ehrlich Paul R., Holdren John P. (1972): A bulletin dialogue on the 'Closing Circle': Critique: One-dimensional ecology, Bulletin Of The Atomic Sci-entists 28(5), May 1972, S. 16-27

Holdren John P. (2018): A Brief History of „IPAT“, The Journal of Popula-tion and Sustainability, Vol. 2, No. 2, (Spring 2018), S. 66-74, https://jpopsus.org/wp-content/uploads/2019/02/Holdren-2018-JPS-V2N2.pdf (abgerufen am 12.11.2020)

v. Weizsäcker Ernst Ulrich, Lovins Amory, Lovins Hunter (1995): Faktor Vier. Doppelter Wohlstand – halbierter Naturverbrauch, Droemer Knaur

v. Weizsäcker Ernst Ulrich, Hargroves Karlson, Smith Michael (2010): Faktor Fünf. Die Formel für nachhaltiges Wachstum, Droemer Verlag, München



[1] Commoner (1971)

[2] Holdren (2018)

[3] Ehrlich/Holdren (1972)

[4] Ehrlich (1968)

[5] v. Weizsäcker et al. (1995)

[6] v. Weizsäcker et al. (2010)

[7] Holdren (2018), eigene Übersetzung

Die Rückkehr zum menschlichen Maß: Industrielle Abrüstung!

Rückbau statt Umbau   

Die Potenziale von erneuerbaren Energien und Effizienztechniken sind grundsätzlich beschränkt und können das derzeitige Verbrauchsniveau nicht aufrechterhalten. Wir werden in Zukunft mit wesentlich weniger Nettoenergie auskommen müssen. Der Umbau der Ökonomie muss deshalb in den reichen Industrieländern mit einem konsequenten, solidarisch gestalteten Rückbau einhergehen. Konsequente ordnungspolitische Maßnahmen können diesen unvermeidlichen Schrumpfungsprozess einleiten.   

Bruno Kern

 

Die Rede vom ökologischen „Umbau“ der Industriegesellschaft ist inzwischen über alle politischen Lager hinweg zum Gemeinplatz geworden. Unterstellt wird dabei, dass wir die nötigen Reduktionen und schließlich die CO2-Neutralität allein mittels effizienterer technischer Verfahren erreichen und dass wir die Energie, die bislang aus fossilen Quellen stammt, problemlos durch erneuerbare Energien substituieren können. Wer allerdings seriös rechnet, kommt an dem Befund nicht vorbei, dass ein Umbau zwangsläufig mit einem Rückbau einhergehen muss, dass wir den absoluten Verbrauch an Energie und anderen Ressourcen drastisch absenken müssen. Eigentlich sagt es einem der Hausverstand: Erneuerbare Energiequellen weisen eine viel geringere Energiedichte auf als fossile, sie haben ein beschränktes Potenzial und ihre ehrlich gerechnete Energiebilanz ist eher ernüchternd.

Der Endenergieverbrauch in Deutschland, der neben elektrischem Strom (er macht zurzeit lediglich 20 % aus) Raumwärme, Verkehr, Prozessenergie etc. umfasst, beträgt derzeit jährlich 2.500 TWh. Eine im Auftrag des WWF erstellte Studie hat errechnet, dass in Deutschland ein Potenzial von erneuerbaren Energien ausgeschöpft werden könnte, das kaum mehr als 700 TWh bereitstellt (WWF 2019, 9). Das wäre immerhin deutlich mehr als doppelt so viel der heute aus erneuerbaren Quellen stammenden Strommenge. Auch wenn da und dort etwas optimistischer gerechnet wird, klafft eine große Lücke zwischen unserem derzeitigen Endenergieverbrauch und dem, was uns aus einheimischen erneuerbaren Quellen theoretisch zur Verfügung steht. Allein die Umstellung der Chemieindustrie auf heutigem Niveau auf dekarbonisierte Verfahren bedingt einen zusätzlichen Strombedarf von 685 TWh, wesentlich mehr, als wir heute insgesamt an Strom erzeugen (DECHEMA/FutureCamp 2019, 9). Inzwischen wurde der Offenbarungseid längst geleistet. Gerade diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten beharrlich die Möglichkeit einer hundertprozentigen Versorgung mit erneuerbaren Energien beschworen haben, gehen offenbar davon aus, dass wir noch Jahrzehnte lang auf Erdgas angewiesen sein werden und riesige Mengen an Wasserstoff importieren müssen, wenn wir unser Industrialisierungsniveau aufrechterhalten wollen. Die Umstellung unserer Stahlproduktion, Brennstoffzellen für Schiffe, Busse, Lastkraftwagen, Flugzeuge, Stromspeicher usw. erfordern Wasserstoffmengen, die wir – davon gehen die meisten Szenarien aus – zu etwa 80 % aus anderen Ländern beziehen müssen (Kreutzfeld 2022). Allerdings: Auch in Ländern mit den günstigsten Bedingungen für Solar- und Windstrom sind die entsprechenden Potenziale nicht unbegrenzt, und vielfach mangelt es genau in den Gegenden, die für Europa in dieser Hinsicht am interessantesten sind (Nord- und Westafrika), an der für die Produktion von grünem Wasserstoff unentbehrlichen Ressource Süßwasser! Unsere Gier nach dem „Champagner der Energiewende“ geht auf Kosten der unmittelbaren Lebensbedingungen der Menschen in den potenziellen Exportländern. Es zeichnen sich jetzt schon ein neuer Imperialismus unter grünem Vorzeichen und ein gefährlicher weltweiter Konkurrenzkampf um die Ressource Wasserstoff ebenso wie um andere, für erneuerbare Energien und Verfahren unentbehrliche und knappe nicht erneuerbare Rohstoffe (Lithium, Kobalt, Grafit, Neodym, usw.) ab.


Erneuerbar heißt nicht unerschöpflich

Nicht zuletzt unter dem Handlungsdruck des Ukrainekrieges wird der Ausbau der erneuerbaren Energien zurzeit forciert vorangetrieben. An den grundsätzlich beschränkten Potenzialen kann dies allerdings nichts ändern. Dazu kommt: Der Ausbau der entsprechenden Anlagen mitsamt der erforderlichen Infrastruktur ist zunächst selbst mit einem erheblichen Einsatz von Energie und Ressourcen und mit entsprechenden Emissionen verbunden. In einer Situation, in der das uns noch zur Verfügung stehende CO2-Budget in nur wenigen Jahren ausgeschöpft sein wird, haben wir es also gerade durch den forcierten Ausbau der erneuerbaren Energien mit einem „materiellen Rebound“ erheblichen Ausmaßes zu tun. Allein die Installation einer Windkraftanlage, die dem heutigen Standard (mit etwa 3,5 MW Leistung) entspricht, verbraucht – neben seltenen Erden wie Neodym für den Generator – ca. 150 Tonnen Stahl und bedarf darüber hinaus eines 2000 Tonnen schweren Stahlbetonsockels. Pro MW Leistung fallen überdies etwa 10 Tonnen zusätzlicher Metalle wie etwa Kupfer an.

Die öffentliche Debatte suggeriert zurzeit, dass lediglich bürokratische Hindernisse zu beseitigen wären, um den Ausbau der erneuerbaren Energien voranzubringen. Verschleiert wird dabei das grundsätzlich beschränkte Potenzial.[1]

Beispiel Photovoltaik: Sie trägt zurzeit etwa mit 9 % zur Stromversorgung bei und wird in Deutschland auch in Zukunft eine eher untergeordnete Rolle spielen. Sie ist jene erneuerbare Energieform, die zunächst des größten Material- und Energieinputs bedarf. Auf die Kilowattstunde bezogen ist der Ressourceneinsatz mehr als sechzigmal so hoch wie bei einem Atomreaktor. Die Energierücklaufzeit, also der Zeitpunkt, ab dem eine entsprechende Anlage Nettoenergie abwirft, der Zeitpunkt also, bis zu dem sie das an Energie erzeugt hat, was für die Anlage selbst (samt Netzintegration, usw.) nötig war, hängt wesentlich von der Anzahl der Sonnenvolllaststunden im Jahr ab. Viele Energiebilanzen setzen einfach 1800 Sonnenvolllaststunden in die Rechnung ein. In Norddeutschland sind wir aber davon weit entfernt und erreichen nicht einmal die Hälfte davon. Es gibt begründete Zweifel daran, ob – sofern man ehrlich bilanziert – Photovoltaik in Regionen wie Norddeutschland oder der Schweiz überhaupt eine positive Energiebilanz aufweisen. Die heute politisch geforderte Solarpflicht möglichst auf allen Dächern ist daher purer Unsinn.[2] Gerade aufgrund des hohen erforderlichen Energieinputs sollten Photovoltaikmodule dort installiert werden, wo sie eine genügend große Effizienz versprechen.

Zur Berechnung des EROEI (energy return on energy invested), also der Energierücklaufzeit, sei grundsätzlich vermerkt: Eine ehrliche Bilanzierung, die man allerdings meist vermeidet, wäre das emergy-Konzept, wie es etwa Howard Oddum vorschlägt. Emergy steht hier für embodied energy und meint: Anteilmäßig ist bei der Bilanzierung einer Anlage der gesamte Prozess zu berücksichtigen, der für ihre Herstellung samt Netzintegration erforderlich war, das heißt: Bezogen auf die Photovoltaik wäre anteilmäßig mit dem Bau der Fabriken zu beginnen, die die Bagger herstellen, welche den Sand schaufeln, aus dem schließlich das Silizium gewonnen wird, usw. Ehrlicherweise müsste man wegen der Volatilität der erneuerbaren Energien in die Bilanz auch die erforderlichen Speicherkapazitäten mit aufnehmen. Zu bedenken ist zudem: Der heute ermittelte EROEI ist eine Momentaufnahme, er wird sich tendenziell verschlechtern, weil der Abbau der erforderlichen Rohstoffe tendenziell immer energieintensiver wird (u. a. bedingt durch geringere Metallgehalte der Erze).

Die für Deutschland wichtigste und aussichtsreichste Form erneuerbarer Energien ist ohne Zweifel die Windenergie. Auch hier bestimmen Abstandsregelungen und andere bürokratische Hürden die öffentliche Debatte. Zwei Prozent unserer Landfläche, so lautet die derzeitige politische Vorgabe, sollten Windparks zur Verfügung stehen. Wiederum lügt man sich damit in die eigene Tasche: Abgesehen davon, dass angesichts sehr knapper Flächen, angesichts eines größeren Flächenbedarfs für eine (flächenexentensivere) ökologische Landwirtschaft, angesichts der als CO2-Senken benötigten Wälder, Moore, usw.  tatsächlich eine Nutzungskonkurrenz gegeben ist, verschleiert man hier das Problem, dass es nicht einfach um Flächen, sondern um geeignete Standorte geht! Die Effizienz einer Windkraftanlage hängt wesentlich von der Durchschnittswindgeschwindigkeit an einem bestimmten Standort ab (sechs Meter pro Sekunde lautet eigentlich die Anforderung). Dass diese Flächen knapp sind, hat bereits im Jahr 2004 Gregor Czich (Universität Kassel) im Detail aufgezeigt. Natürlich wurden tendenziell die besten Standorte zuerst genutzt. Ein bedeutendes Potenzial dürfte durch das sogenannte Repowering erschlossen werden können, also durch den Ersatz alter Windräder durch leistungsstärkere an bereits genutzten Standorten. Die verzweifelte Suche nach weiteren günstigen Standorten für Windkraftanlagen hat heute die Konsequenz, dass man ein erhebliches Maß an Naturzerstörung, zum Beispiel Abholzung in großem Stil, in Kauf nimmt – was die CO2-Bilanz eher verschlechtern dürfte. Das Beispiel Baden-Württemberg ist hier aufschlussreich: Hier gibt es keinerlei Abstandsregeln und seit 2011 einen grünen Ministerpräsidenten. In dessen ersten Koalitionsvertrag (damals noch mit der SPD) wurde die Absichtserklärung aufgenommen, 10 % des Strombedarfs aus heimischer Windkraft zu bestreiten. Nachdem man zehn Jahre später bei etwa 4,4 % gelandet war, sieht der aktuelle Koalitionsvertrag nun die Freigabe von Staatsforsten vor. Abholzung in großem Stil also in der Schwäbischen Alb und im Schwarzwald! So sieht sie aus, die schöne neue Welt der erneuerbaren Energien. 

Auch das Offshore-Potenzial ist grundsätzlich begrenzt: Es ist schwierig, über eine Meerestiefe von mehr als 30 Metern hinauszugehen, und das Problem der „Verschattung“ lässt nur eine bestimmte Ausbaudichte zu. Auf  Europa bezogene Studien veranschlagen das Offshore-Potenzial auf nicht mehr als 25 % des derzeitigen Stromverbrauchs, und weltweit geht man von etwa 5000 TWh an Offshore-Potenzial aus. Dass einer der prominentesten Klimawissenschaftler, der aus einem Land mit viel Meeresküste stammt (Großbritannien), James Lovelock, angesichts dieser Aussichten zum Atomkraftbefürworter mutiert ist, darf daher nicht verwundern. Gregor Czich hingegen sieht die Lösung in riesigen Verbundnetzen, die Nordafrika ebenso umfassen wie den Kaukasus, also etwa ein Drittel der Landfläche der Erde einbeziehen. Dass dabei die Notwendigkeit des Aufbaus redundanter Strukturen die Energiebilanz verschlechtert, reflektiert er kaum. So fantastische Blüten treibt inzwischen die Verzweiflung derer, die sich der Beschränktheit der Potenziale ehrlich stellen.

In die Energiebilanz einbeziehen müsste man ehrlicherweise auch die erforderlichen Speicherkapazitäten, die dafür sorgen, dass Strom auf Abruf verfügbar ist, was für eine Industriegesellschaft unabdingbar ist.[3] Das schiere Ausmaß dieser Aufgabe stellt uns vor erhebliche Probleme. Einen hohen Effizienzgrad[4] weisen Pumpspeicherkraftwerke auf, für die allerdings die entsprechenden landschaftlichen Voraussetzungen gegeben sein müssen. Keineswegs banal ist natürlich auch die Grundsatzfrage, wie viel Landschafts- und Naturzerstörung wir für unsere Energieversorgung in Kauf nehmen wollen. Sogenannte Redox-Flow-Batterien (auf der Basis von Vanadium, das zurzeit vor allem als Abfallprodukt bei der Stahlerzeugung anfällt, oder Lignin) sind ebenfalls sehr effizient, brauchen aber sehr viel Platz. Aufgrund der bereits vorhandenen Netzanbindung könnte die Installierung dieser Speicher an Standorten stillgelegter fossiler Kraftwerke eine sinnvolle Möglichkeit sein. Druckluftspeicher eignen sich nur für Kurzzeitspeicherung bis zu 48 Stunden, und Wasserstoffspeicher haben einen sehr schlechten Wirkungsgrad (etwa 20 %).

Die komplette Substituierbarkeit der fossilen Energien durch Erneuerbare ist also illusorisch. Wir sollten uns rechtzeitig darauf einstellen, dass wir in Zukunft mit erheblich weniger Nettoenergie auskommen werden müssen. Daran wird auch eine denkbare Steigerung der technischen Effizienz nicht viel ändern.

 

Effizienzrevolution?

Die Verheißungen der Effizienzrevolution hat Fred Luks mit einer einfachen Rechnung ad absurdum geführt: Wenn der Ressourcenverbrauch in den Industrienationen bis 2050 um einen Faktor 10 sinken soll (was weitgehend Konsens ist), und wenn man gleichzeitig ein bescheidenes Wirtschaftswachstum von 2 % jährlich unterstellt, dann müsste die Ressourcenproduktivität (also die Menge an Gütern und Dienstleistungen pro Einheit einer bestimmten eingesetzten Ressource) um den Faktor 27 wachsen! Ein Wirtschaftswachstum von 3 % setzt bereits eine 43-fache Energie- und Ressourceneffizienz voraus (Luks 1997). Effizienzsteigerungen sind schlicht dem Gesetz des sinkenden Ertrags unterworfen, das heißt, je mehr Effizienzpotenziale bereits ausgeschöpft sind, um so aufwändiger wird es, weitere Effizienzsteigerungen zu erzielen. Dies wird auch durch die Empirie bestätigt: In Industrieländern wie Deutschland oder Japan kann man beobachten, dass nach beeindruckenden Steigerungen der Energieeffizienz (des Verhältnisses von Energieinput und Bruttosozialprodukt) und immerhin einer zeitweiligen relativen Entkoppelung des BIP-Wachstums vom Energie- und Ressourcendurchsatz ab Mitte der Siebzigerjahre danach keine weiteren nennenswerten Effizienzerfolge erzielt werden konnten. In Deutschland ist seit etwa 2000 eine Stagnation zu beobachten (der Sonderfaktor DDR, also die Abwicklung der sehr ineffizienten Industrieanlagen im Osten Deutschlands, ist der Grund dafür, dass dieser Effekt im Vergleich zu anderen Industrieländern zeitlich verzögert auftrat), in Japan sogar schon seit Beginn der Neunzigerjahre (Minqui Li 2008, 161–162). Die genaueste Studie weltweit dazu ist wohl die der beiden Kanadier Lightfood und Green. Sie schätzen das weltweite Effizienzpotenzial vom Bezugsjahr 1990 aus gerechnet bis zum Ende unseres Jahrhunderts (also bis 2100!) weltweit auf 250 bis 330 % (u.a. zitiert bei Minqui Li 2008, 162), wobei in eine solche globale Betrachtung bislang höchst ineffiziente Regionen mit einfließen. Das ist sehr weit entfernt von den berühmten Faktor-Rechnungen eines Ernst Ulrich von Weizsäcker. Um diesen ernüchternden Befund zu verschleiern, beschränken sich die ökologisch-kapitalistischen Zweckoptimisten wie er in ihren Bestsellern immer nur auf beeindruckende Einzelbeispiele. Nach Ted Trainers Urteil beruhen selbst hier 50% auf reinen Glaubensannahmen (Trainer 2007, 115–117).

Es führt also kein Weg daran vorbei: Eine absolute Abkoppelung des für die Stabilität der kapitalistischen Ökonomie erforderlichen Wirtschaftswachstums vom Energie- und Ressourcendurchsatz ist angesichts dieses Befundes eine Illusion. Das heutige Niveau an industrieller Produktion ist mit ökologischer Nachhaltigkeit nicht vereinbar. Es muss ein möglichst rascher und konsequenter Rückbau eingeleitet werden. Diesen möglichst konkret zu beschreiben und aufzuzeigen, wie er solidarisch zu gestalten wäre, ist m. E. nun die vordringliche Aufgabe.


Industrielle Abrüstung

Sehen wir uns den Befund für einige Bereiche exemplarisch näher an[5]:

Von größter Bedeutung ist in Deutschland eine ökologische Verkehrswende. Der Verkehr ist zurzeit für etwa 20 % der Kohlendioxid-Emissionen und für einen Gesamtenergieverbrauch von etwa 750 TWh verantwortlich. Die Umstellung auf alternative Antriebe hilft da wenig. E-Fuels und Brennstoffzellen auf Wasserstoffbasis weisen einen sehr schlechten Effizienzgrad auf. Bei Letzteren werden – nach dem erforderlichen doppelten Umwandlungsprozess – weniger als 20 % der ursprünglich eingesetzten Energie in kinetische Energie umgesetzt. Die notwendige Verflüssigung und der aufwändige Transport tragen erheblich zur schlechten Energiebilanz bei.

Der zusätzliche Strombedarf für E-Autos als individuelles Massenverkehrsmittel kann aus erneuerbaren Quellen nicht gedeckt werden, zumal wenn man bedenkt, dass Kohlendioxidneutralität in anderen Bereichen einen erheblichen zusätzlichen Strombedarf bedingt – etwa wenn die Öl- und Gasheizungen durch Wärmepumpen ersetzt werden.

In die Gesamtbilanz mit einzubeziehen ist aber darüber hinaus bereits die Automobilproduktion!  48 % des in der Erzeugung sehr energieintensiven Aluminiums (eine erzeugte Tonne frisst 14 MWh Strom!), 26 % des Stahls und 12 % der Kunststoffe fließen derzeit in die deutsche Automobilproduktion. Die vorgelagerten Ausrüstungsindustrien, die Produktion entsprechender Fertigungsmaschinen, Roboter, etc., ist dabei noch gar nicht berücksichtigt. Das E-Auto verschärft dieses Problem noch[6]: Die schwere Batterie, deren Erzeugung selbst bereits mit einem erheblichen CO2-Ausstoß verbunden ist (nach einer VDI-Studie 17 Tonnen, durch technische Verbesserungen will man dies in der EU bis 2030 auf 12 Tonnen absenken), muss durch mehr Leichtbauweise (mehr Aluminium, mehr Kohlenstoffverbundfasern ...) kompensiert werden, sodass ein E-Auto bereits in der Produktion erheblich mehr Energie und Ressourcen verbraucht als ein vergleichbarer Benziner oder Diesel. Laut einer recht neuen Studie des VDI muss ein E-Mittelklassewagen etwa 90.000 km gefahren sein, bis er den ökologischen Nachteil in der Produktion gegenüber einem vergleichbaren Verbrenner aufgeholt hat. Die derzeit in Deutschland zugelassenen 48 Millionen PKWs, geschweige denn die weltweit mehr als eine Milliarde Autos auf alternative Antriebe umzustellen, ist – allein schon aufgrund der Knappheit der dafür nötigen Rohstoffe wie etwa Lithium und Kobalt – schlicht absurd. Selbst Bündnis 90/Die Grünen, die in diesem Bereich tendenziell zweckoptimistisch sind, gehen davon aus, dass im Jahr 2030, also fünf Jahre vor dem von der EU-Kommission geplanten Aus für Verbrenner,  in Deutschland maximal 15 Mio. E-Autos zur Verfügung stehen. Die bis 2021 amtierende Bundesregierung veranschlagte die Anzahl der E-Autos bis 2030 der EU gegenüber nur mit 8 Mio. Angesichts dieses Befunds drängt sich aber sofort die Frage auf, wem dann das Privileg des Autofahrens noch zugestanden werden soll. Der Vorschlag der Initiative Ökosozialismus lautet deshalb: Spätestens ab dem Jahr 2030 sollten keine PKWs mehr für den rein privaten Gebrauch zugelassen werden (ausgenommen sind natürlich Einsatzfahrzeuge, Taxis inklusive Transporttaxis, Betriebsfahrzeuge für Handwerker, gemeinschaftlich verwaltete E-Auto-Pools in abgelegenen Gegenden des ländlichen Raums  ...). Das würde die Reduktion der Automobilflotte auf etwa ein Zehntel bedeuten. Ökologische Verkehrswende kann nur den konsequenten Abschied vom motorisierten Individualverkehr bedeuten. Ein entsprechender Ausbau des öffentlichen Verkehrs kann, wie das Beispiel Schweiz zeigt, auch abgelegene Siedlungen im ländlichen Raum sinnvoll anbinden.  Allerdings können wir das heutige Verkehrsaufkommen nicht im Verhältnis eins zu eins auf öffentliche Verkehrsmittel verlagern. Dies würde eine Vervielfachung der Kapazitäten bedeuten, die weder logistisch machbar noch ökologisch sinnvoll wäre. Die Reduktion der Notwendigkeit von Mobilität ist eine anspruchsvolle strukturpolitische Aufgabe. Die Eindämmung des Güterverkehrs durch eine Regionalisierung der Wirtschaft, die derzeit auch an den Vorgaben des EU-Binnenmarkts scheitert, ist unabdingbar. Darüber hinaus werden wir auch ein anderes Verhältnis zur Mobilität entwickeln und uns von bestimmten Ansprüchen verabschieden müssen (vgl. Kern 22020, 78–85; 165).

Ein weiterer Problembereich ist die Bauindustrie, die unter anderem 35 % des bei uns erzeugten Stahls verbraucht. Die Stahlerzeugung ist nicht nur mit einem erheblichen Energieverbrauch verbunden, darüber hinaus fällt auch prozessbedingt – durch die Herauslösung des Sauerstoffs – Kohlendioxid an. Nun gibt es technisch ausgereifte Verfahren, die das Reduktionsmittel Koks durch Wasserstoff ersetzen und das so gewonnene Roheisen in Elektrolichtbogenöfen zu Stahl weiterverarbeiten. Die Effizienz kann noch dadurch gesteigert werden, dass man den Wasserstoff aus Wasserdampf gewinnt und hierfür die Abwärme der Hochöfen nutzt. Doch auch bei Ausschöpfung all dieser Möglichkeiten: Dieser „grüne Stahl“ wird uns angesichts des knappen Angebots an der nötigen Energie (etwa zur Wasserstofferzeugung) nur in erheblich geringeren Mengen zur Verfügung stehen. Die Umstellung des heutigen Niveaus der Stahlproduktion auf emissionsfreie Verfahren erfordert etwa 130 TWh mehr Strom!  Allein das Thyssen-Krupp-Stahlwerk in Duisburg benötigte bei Umstellung auf dekarbonisierte Verfahren 3.500 Windräder – wesentlich mehr, als derzeit in NRW installiert sind. Die Zementherstellung – allein sie verschlingt bislang insgesamt 28 TWh Energie – ist nicht nur energieintensiv (Kalkstein muss auf 1400 Grad Celsius erhitzt werden), durch die Zerkleinerung des Kalksteins werden große Mengen von darin gebundenem CO2  prozessbedingt freigesetzt. Auch wenn man also den nötigen Energiebedarf durch alternative Verfahren verringert, betrifft dies nur den geringeren Teil des Kohlendioxidausstoßes. Wenig bekannt ist auch, dass zum Bauen geeigneter Sand (Wüstensand ist dies nicht!) inzwischen ein sehr knapper Rohstoff ist. Unausweichlich ist eine absolute Reduktion der Bautätigkeit, das heißt ein vollständiger Verzicht auf Prestigebauten und auf alles, was der alten, fossilen Infrastruktur dient. Was den nötigen Wohnraum betrifft, sind Mechanismen der Umverteilung des vorhandenen Wohnraums politisch zu entwickeln. Laut Auskunft des Statistischen Bundesamtes gibt es derzeit in Deutschland 2,3 Mio. mehr Wohnungen als Haushalte. Auch zunehmend leerstehende Gewerbebauten könnten einbezogen werden. Die Baugenehmigungsverfahren sind so zu reformieren, dass sie überzogene Größenordnungen, freistehende Einfamilienhäuser, etc. verhindern. Jenseits von Stahl und Beton müssen wir in Zukunft auf alternative Bauweisen, vor allem auf Holzbau, setzen, der inzwischen, wie unter anderem das Beispiel Österreich zeigt, hoch entwickelt ist.

Auch für die wichtige Branche Chemieindustrie gilt, dass man sie im Prinzip vollständig treibhausgasneutral gestalten könnte, dass man sowohl die prozessbedingten  (etwa durch CO2-freie Herstellung von Wasserstoff, wie er etwa für Ammoniak für die Kunstdüngerherstellung verwendet wird) als auch die durch die Wärmeerzeugung bedingten Emissionen (etwa für das sogenannte Steamcracking, mittels dessen die langen Kohlenwasserstoffverbindungen aufgespalten werden) vollständig vermeiden könnte. Auf den damit verbundenen Mehrverbrauch an Strom von 685 TWh wurde allerdings weiter oben bereits hingewiesen. Man kommt also auch in diesem Bereich um eine erhebliche Reduzierung der Gesamtproduktion nicht herum. Neben den bereits besprochenen Bereichen  Bauindustrie (22 %) und Automobilindustrie (12 %) weist derzeit vor allem die Verpackungsindustrie einen Kunststoffbedarf in erheblichem Umfang auf (35 %). Gerade in diesen Bereich aber könnte man sehr einfach ordnungspolitisch eingreifen: Ein erheblicher Anteil der heutigen Kunststoffverpackungen (Lebensmittelkonserven aller Art, Reinigungsmittel, Getränkebehälter) könnte ohne Weiteres durch entsprechende Mehrwegsysteme ersetzt werden. Einwegflaschen aus Plastik könnte man kurzerhand ebenso verbieten wie Weißblech-Aluminiumdosen. Für einen verbleibenden Rest von schwer vermeidlichen Kunststoffverpackungen könnte man durch Vorschreiben von Farb- und Sortenreinheit eine hohe Recyclingquote sicherstellen. Damit hätte man neben der Emissionsvermeidung gleichzeitig die Müllproblematik zu einem erheblichen Teil behoben.

Eine Rückkehr von der derzeitigen Agrarindustrie zu einer bäuerlichen Landwirtschaft, die auf Kunstdünger verzichten kann, macht die Ammoniak-Herstellung mittels des energieintensiven Haber-Bosch-Verfahrens überflüssig. Nur ein Herunterfahren der Produktion mithilfe solcher einschneidenden Maßnahmen wird eine vollständig emissionsfreie chemische Industrie ermöglichen.

Anhand dieser drei großen Bereiche wird exemplarisch deutlich, in welcher Dimension wir einen Rückbau von Produktion und Konsum möglichst rasch bewerkstelligen müssen. Zu betonen ist dabei, dass dies bei entsprechendem politischen Willen mit den jetzt schon zur Verfügung stehenden ordnungspolitischen Instrumenten[7] möglich ist. Klugerweise wird man, um eine Mehrheit von Menschen auf diesem schwierigen Weg mitzunehmen, mit all den Maßnahmen beginnen, die niemandes Lebensqualität tangieren, sondern schlicht kapitalistischem Leerlauf geschuldet sind. Die Verpackungsindustrie wurde bereits genannt. Die Lebensdauer eines  Großteils von Haushaltsgeräten, elektronischen Geräten, usw. könnte durch wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der „geplanten Obsoleszenz“, durch Vorschreiben von entsprechenden Gewährleistungsfristen erheblich verlängert werden, und durch Anforderungen an das Produktdesign bezüglich Reparier- und Recyclingfähigkeit im Sinne des Prinzips „cradle to cradle“ könnte man die Produktion in diesem Bereich deutlich verringern. Allerdings sollte nicht verschwiegen werden, dass ein konsequent vorangetriebener Rückbau auch eingeschliffene Konsummuster einer großen Bevölkerungsmehrheit infrage stellt. Das betrifft auch die Vielzahl digitaler Endgeräte, den heute so selbstverständlichen Besitz eines Smartphones, etc. Die Knappheit der zur Verfügung stehenden Ressourcen hat eine Verwendungskonkurrenz zur Folge. Das heißt: Wir werden uns politisch darauf verständigen müssen, wofür wir diese Ressourcen einsetzen: für den Bau von Kreuzfahrtschiffen oder für genügend MRT-Geräte in unseren Krankenhäusern (vgl. dazu Kern 22020, 158–162).

Politisch auszuhandeln wäre darüber hinaus, auf welche Produkte wir völlig verzichten wollen, weil sie keinerlei gesellschaftlichen oder individuellen Nutzen aufweisen, sondern im Gegenteil schädlich, krankmachend, gefährlich sind. An erster Stelle ist hier natürlich die Rüstungsproduktion zu nennen. Es ist an Absurdität kaum mehr zu überbieten, dass wir uns mit einem gigantischen Ressourcenaufwand auf künftige Kriege um knapper werdende Ressourcen vorbereiten (vgl. dazu vor allem Zumach 22005). Die militärische Infrastruktur (ohne Auslandseinsätze) sowie die Rüstungsindustrie verursachen weltweit schätzungsweise 5 – 6 % der Treibhausgasemissionen. Die kriegsbedingten Emissionen sind dabei noch nicht mitgezählt (vgl. Kern 2024, 177–187).  

Natürlich müssen wir diesen Rückbau solidarisch gestalten und dafür sorgen, dass die materielle Existenz der betroffenen Menschen gesichert ist. Kurzfristig wird in vielen Bereichen der Umbau einen Bedarf an Facharbeitskräften bewirken, etwa für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs, für die energetische Gebäudesanierung, usw. Langfristig  bedeutet der Ausstieg aus der Industriegesellschaft, wie wir sie kennen, in etlichen Bereichen einen Mehrbedarf an menschlicher Arbeitskraft, etwa in der Landwirtschaft, in Reparaturbetrieben und im traditionellen Handwerk. Darüber hinaus besteht heute schon ein deutlicher Mehrbedarf an Arbeitskräften im Pflege- und Erziehungssektor.

Um die Menschen bei diesem gewaltigen notwendigen Rückbau der Industriegesellschaft materiell abzusichern, hat Helge Peukert vorgeschlagen, mittels Zentralbankgeld (das heißt unabhängig von den Einnahmen der kapitalistischen Wachstumsmaschine) einen sozial-ökologischen Beschäftigungssektor aufzubauen. Ein von der Zentralbank als „Schenkgeld“ ausgegebenes „bedingtes Grundeinkommen“ (im Unterschied zu einem bedingungslosen Grundeinkommen soll dies durchaus an eine notwendige, zumutbare Arbeitsleistung gekoppelt sein, etwa zur Beseitigung von Umweltschäden, etc.) kann den Menschen die mit dieser Transformationen verbundenen Existenzängste nehmen und sie zu aktiven Protagonisten dieses Wandels machen (Peukert 2021, 465–479).

)

Literatur:

Alexander, Samuel / Floyd, Joshua 2020: Das Ende der Kohlenstoff-Zivilisation. Wie wir mit weniger Energie leben können, München.

DECHEMA/FutureCamp 2019: Roadmap Chemie 2050. Auf dem Weg zu einer treibhausgasneutralen chemischen Industrie, Frankfurt a. M./ München.

Kern, Bruno 22020: Das Märchen vom grünen Wachstum. Plädoyer für eine solidarische und nachhaltige Gesellschaft, Zürich.

Kern, Bruno (2024), Industrielle Abrüstung jetzt! Abschied von den Technikillusionen, Marburg.

Kreutzfeld, Malte: Warnung vor neuem Kolonialismus, in: TAZ v. 27. 4. 2022.

Luks, Fred, Der Himmel ist nicht die Grenze, in: Frankfurter Rundschau, 21. 1. 1997.

Meier, Klaus 2020: Das Klima retten. CO2-neutrale Technologien und industrieller Rückbau, Frankfurt a. M.

Minqi Li 2008: The Rise of China and the Demise of Capitalist Word-Economy, London.

Peukert, Helge 2021: Klimaneutralität jetzt! Marburg.

Rohstoffhunger der E-Autos, in: Regenwaldreport 2/2021, 6–9.

Trainer, Ted 2007: Renewable Energy Cannot Sustain a Consumer Society, Dordrecht.

WWF (Hg.) 2019: Germanyʼs Electric Future II. Regionalization of renewable power generation, Berlin.

Zumach, Andreas 22005: Die kommenden Kriege. Ressourcen, Menschenrechte, Machtgewinn – Präventivkrieg als Dauerzustand? Köln.



[1] Zum Folgenden darf ich pauschal verweisen auf Kern 22022, 40–90, und Kern 2024, 27–54, wo ich mich detailliert mit den Energiebilanzen der erneuerbaren Energien auseinandergesetzt habe.

[2] Allerdings: Die Haben-Seite der Bilanz schlägt da zu Buche, wo die entsprechende Anlage gebaut wurde, sodass bei uns der Eindruck einer gelungenen Energiewende aufrechterhalten werden könnte. Für das Weltklima allerdings macht dies keinen Unterschied. Gerade angesichts des derzeitigen Booms von Balkonkraftwerken ist anzumerken: Die monetären Kosten spiegeln die energetischen Kosten nicht wieder, da Solarmodule größtenteils in China produziert werden, wo der Strom, der zu 60 % aus Kohlekraftwerken stammt, auf zwei Cent pro Kilowattstunde heruntersubventioniert ist und wo Arbeitskräfte wesentlich billiger sind. Hinzu kommen Dumpingpreise, über die man sich Märkte erschließen will. Die Tatsache, dass sich ein solches Balkonkraftwerk finanziell relativ rasch amortisiert, täuscht über eine in den meisten Fällen schlechte Energiebilanz hinweg. 

[3] Hierzu verweise ich vor allem auf Alexander/ Floyd 2020, 101–103.

[4] Deutlich mehr als 80 %  - wobei allerdings meistens der Idealfall voller Speicher bei Bedarf und leerer Speicher bei anfallender überschüssiger Energie unterstellt wird.

[5] Zum Folgenden verweise ich vor allem auf Meier 2020.

[6] Zur Ökobilanz von E-Autos verweise ich auf: Kern 2024, 47–53.

[7] Ich habe andernorts ausführlich begründet, warum sogenannte „marktkonforme Instrumente“, also die politische Beeinflussung der Preise durch CO2-Steuern, Emissionshandel, etc. ungeeignet sind, um diesen Rückbau zu gestalten. Neben vielen anderen Gründen ist mein Hauptargument, dass diese Instrumente nur so weit greifen, wie die entsprechenden Reduktionen durch effizientere Verfahren kompensiert werden können. Wenn es aber um absolute Reduktion der Produktion geht, erweisen sie sich als untauglich. Würde der CO2-Preis so hoch angesetzt (etwa durch eine entsprechende Ausgestaltung des Emissionshandels), dass das 1,5-Grad-Ziel der Erderwärmung noch eingehalten werden könnte, dann hätte dies den Zusammenbruch von wesentlichen Teilen der Industrieproduktion und ein Ende des Geschäftsmodells eines Großteils der Konzerne zur Folge. Vielfach wird auch argumentiert, dass allein ein entsprechend hoher CO2-Preis die Kohleverstromung elegant vom Markt verdrängen könnte, weil sie dann gegenüber anderen Arten der Stromerzeugung unwirtschaftlich würde. Dieses Argument wäre aber nur unter der Voraussetzung zutreffend, dass Alternativen in genügendem Maß zur Verfügung stünden! Vgl. vor allem Kern 22020, 91–115; Kern 2024, 71–91.

Bevölkerungswachstum als eine Ursache von Genozid und Krieg

Dieser Beitrag ist ein von Bruno Kern leicht adaptiertes und übersetztes Kapitel aus dem Buch "Factors of Conflict and Conditions of Peace" (Saral Sarkar, 2024, Books on Demand). 

Saral Sarkar

 

Wir wissen, dass wir modernen Menschen insgesamt im Laufe des drei- bis viertausend Jahre währenden Zeitalters der Zivilisation versuchen, unsere Wünsche leicht zu erfüllen, indem wir mehr produzieren, und nicht so sehr, indem wir weniger begehren. Dies ist der Weg zum Wohlstand, den bereits unsere Vorfahren, die die ersten jungsteinzeitlichen Bauern wurden, einschlugen. In der Vergangenheit gab es natürlich einige asketische Mönche und Weise, die dem anderen Weg folgten und wenig begehrten. Doch sie waren immer eine verschwindende Minderheit. Und heute stimmt kaum jemand dieser „Zen-Strategie“ zu, nicht einmal die Mönche in Klöstern.

Doch es mag auch sein, dass der Druck einer langsam wachsenden Bevölkerung unsere Vorfahren nach und nach zwang, immer mehr zu produzieren. In diesem Falle produzierten sie kaum irgendeinen Wohlstand. Und wenn es ihnen gelang, mehr zu produzieren, aber gerade genug, um die bloßen materiellen Wünsche ihrer zahlreicher werdenden Bevölkerung zu befriedigen, dann erreichten sie das kaum auf leichte Art und Weise.

Historiker, die sich mit Demografie beschäftigen, haben gezeigt, dass die Weltbevölkerung seit der Jungsteinzeit vor etwa 10.000 Jahren kontinuierlich, aber sehr langsam, zugenommen hat, bis wir in den letzten Jahrhunderten ein exponentielles und zeitweise sogar überexponentielles Wachstum zu verzeichnen hatten.[1]


Hier nur einige Zahlen aus den letzten Jahrzehnten: Im Jahr 1960 betrug die Zahl der Weltbevölkerung 3 Mrd., 1974 4 Mrd., 1987 5 Mrd., 1999 6 Mrd. 2011 7 Mrd. (Schriefl 2021, 60). Und nun sind wir bereits bei mehr als 8 Mrd. angelangt.

Parallel zum Bevölkerungswachstum fanden einige andere Prozesse innerhalb der menschlichen Welt als ganzer, aber mehr oder weniger auch in jedem einzelnen Land statt.

Primatenforscher sagen uns, dass Schimpansen Hammer und Amboss erfanden, um Nüsse zu knacken, und aus dünnen Zweigen Werkzeuge machten, um essbare Ameisen aus einem Ameisenhügel zu holen. Bei den Menschen entwickelte sich der Prozess des Erfindens und Fabrizierens von Werkzeugen kontinuierlich auf einem weit höheren Niveau und immer schneller. Dadurch wurde die Produktion der für das Leben grundlegenden Güter tatsächlich leichter. Immer bessere und immer mehr Werkzeuge versetzten uns in die Lage, einen Überschuss zu produzieren, was unter anderem dazu führte, dass immer weniger Menschen an Hunger starben und die Bevölkerung schneller als zuvor wuchs.

Not, das heißt Hunger, war die Mutter der Erfindungen gewesen, wie es sprichwörtlich heißt. Doch in den folgenden Jahrhunderten und Jahrtausenden gewann der ursprüngliche Erfindergeist ein Momentum und entwickelte eine Eigendynamik. Und er zielte zunehmend darauf ab, bessere Waffen für den Krieg zu produzieren sowie neue „Bedürfnisse“ und Wünsche zu befriedigen, die der menschlichen Vorstellungskraft selbst entsprangen. Ein Marxist würde sagen: Grundbedürfnisse stehen in Relation zum Entwicklungsstand der Produktivkräfte. Otto Ullrich brachte dies prägnant, aber kritisch und in einem anderen Kontext auf den Punkt:

Bei einem System, das Bedürfnisse über materielle Produkte zu befriedigen versucht, wird es  [...] für jede erreichte Stufe des „materiellen Wohlstands“ immer wieder neu ungedeckte materielle Grundbedürfnisse geben, vor allem auch, weil dieses System notwendigerweise sehr erfinderisch ist in der Produktion neuer Luxusgüter, die dann Vorbilder werden für neue „Grundbedürfnisse“. Dieses System wird immer zu arm sein  [...]. Was vorgestern das Radio war, war gestern der Schwarzweiß-Fernseher, ist heute das Farbgerät und wird morgen die dreidimensionale Bildproduktionsanlage sein. (Ullrich 1979, 108)

Linke aller Schattierungen werden dem kapitalistischen System und seinem Streben, durch Werbung immer mehr neue Bedürfnisse zu erzeugen, die Schuld geben. Doch ein griechischer Mythenschreiber war es, der Ikarus und Daedalus erfand, die wie Vögel flogen, und es war Jules Verne, der sich eine Reise zum Mond ausdachte. Keiner von beiden war ein Kapitalist. 

 

Grenzen des Wachstums

Der Wettlauf von Bevölkerungs- und Produktivitätswachstum mittels immer mehr Verwendung von immer besseren Werkzeugen und anderer Maßnahmen wie Bewässerung, Manufaktur und Vier-Felder-System stieß an seine Grenzen. Als diese Grenze erreicht war, musste das Bevölkerungswachstum zu einer extensiven Landwirtschaft führen: Immer mehr Land kam unter den Pflug, immer mehr Vieh war in den Ställen, es kam zur Auswanderung in noch schwach besiedelte Länder und schließlich zur Eroberung neuer Kontinente und zum Kolonialismus. Die überschüssige Bevölkerung Europas wurde in die eroberten Kontinente ausgelagert, die keinesfalls terra nullius (Land, das keinem gehört, unbesiedeltes Land) waren. Diese Besiedlung erfolgte durch Tötung, zum Teil durch eingeschleppte Krankheiten, oder durch Vertreibung der indigenen Bevölkerung in immer unwirtlichere Gegenden. Dies alles ist bekannte Geschichte.

Selbst für die Kreuzzüge, angeblich Militärexpeditionen zur Befreiung Jerusalems von muslimischer Herrschaft, war die Überbevölkerung den Historikern zufolge ein wichtiger Faktor. Die große Überzahl jüngerer Söhne des europäischen Adels war natürlich Ritter, doch sie hatten angesichts des geltenden Erbrechts weder die Chance auf ihr eigenes Territorium noch wollten sie Mönche oder Priester werden. In den Kreuzzügen sahen sie eine Gelegenheit, ihr eigenes Territorium zu bekommen. Sie waren es, die die Expeditionen anführten. Und die überzählige Landbevölkerung folgte ihnen ebenfalls als Fußsoldaten in Begleitung ihrer ganzen Familie und ihres Anhangs, um  der Armut zu Hause zu entfliehen.

Der Historiker Robert Bartlett bestätigt diese Deutung der Kreuzzüge: Im 11. Jahrhundert war es aufgrund von günstigen klimatischen Bedingungen und neuen technischen Entwicklungen der Landbewirtschaftung in einigen europäischen Ländern zu einer Bevölkerungsexplosion gekommen. Dies führte auch zu einer Ausdehnung an den Rändern Europas.[2]

Dies war teilweise auch während der Eroberung Spaniens durch die Völker der iberischen Halbinsel der Fall. Jüngere Söhne aus einem Adelsgeschlecht und junge Leute aus der armen Unterschicht ergriffen die Initiative zur Kolonialisierung des amerikanischen Kontinents.

  

Malthus lag nicht falsch

Thomas R. Malthus war der erste Ökonom, der – meiner Meinung nach überzeugend – das Bevölkerungsproblem theoretisch zu fassen versuchte. Doch er wurde von Linken aller Schattierungen, von Feministinnen, von Marx und Engels höchstpersönlich und in jüngerer Zeit auch von vielen Leuten beschimpft, die für sich in Anspruch nehmen ÖkologInnen oder UmweltaktivistInnen zu sein. Er wurde als ein Konservativer, ja schlimmer noch, als Sprachrohr und Lobbyist der Bourgeoisie und des Landadels abgestempelt. Am meisten wurde er aufgrund eines Absatzes in einer der ersten Ausgaben seines Buches Das Bevölkerungsgesetz gescholten. Er fühlte sich gezwungen, diesen Absatz in den weiteren Auflagen zu tilgen. Er lautet folgendermaßen: 

Ein Mensch [...], der in einer schon okkupierten Welt geboren wird, wenn seine Familie nicht die Mittel hat, ihn zu ernähren, oder wenn die Gesellschaft seine Arbeit nicht nötig hat, dieser Mensch hat nicht das mindeste Recht, irgendeinen Teil von Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde. Bei dem großen Gastmahle der Natur ist durchaus kein Gedeck für ihn gelegt. Die Natur gebietet ihm abzutreten, und sie säumt nicht, selbst diesen Befehl zur Ausführung zu bringen. (Blanqui 1971, 105–106)

In den 1950er- und 1960er-Jahren bin ich in Indien vielen solchen hungernden Menschen begegnet. Natürlich hatten sie ein moralisches Recht auf Nahrung, denn schließlich waren es nicht sie selbst, die sich entschlossen haben, geboren zu werden. Ihre Eltern waren es, die sie in die bereits okkupierte Welt hinein brachten. Sie waren bereit, ihre Arbeitskraft im Tausch gegen Nahrung zur Verfügung zu stellen. Doch weder ihre Eltern noch die Gesellschaft als ganze konnten dieser moralischen Forderung entsprechen. Natürlich kümmerten sich viele nicht darum, und viele taten so, als würden sie das einfach nicht sehen.

Jeder, der sich nicht abwendet und sehen will, kann die Hunderttausenden hungriger, vertriebener oder vor Dürre, Krieg und Gewalt in den Regionen Afrikas, des Mittleren Ostens, Zentralamerikas, Südasiens usw. fliehender Menschen sehen, die sich in den Flüchtlingslagern der Nachbarländer drängen. Millionen anderer – arbeitslose junge Männer und Frauen aus solchen Ländern, Leute ohne Perspektive –, die bereit sind, im Tausch für ein besseres Leben zu arbeiten, geben ihre Würde preis und riskieren sehr oft sogar ihr Leben, wenn sie versuchen, die Grenzen nach Europa und Nordamerika auf illegalem Weg zu überschreiten.

Um Malthusʼ Bevölkerungsgesetz verstehen und würdigen zu können, müssen wir dieses Gesetz zunächst wiedergeben und dann interpretieren. „Die Bevölkerung wächst, wenn keine Hemmnisse auftreten, in geometrischer Reihe. Die Unterhaltsmittel nehmen nur in arithmetischer Reihe zu.“ (Malthus 1977, 18). Mit „Unterhaltsmittel“ meint Malthus in seinem Buch Nahrung. William Catton meint dazu:

Malthusʼ wirklich grundlegendes Prinzip ist so wichtig, dass es in der genaueren Terminologie der modernen Ökologie neu formuliert werden muss. Es stellt ein Verhältnis der Ungleichheit zwischen zwei Variablen fest. Des kumulativen biotischen Potenzials der Spezies Mensch und der Tragfähigkeit seines Lebensraumes. (Catton 1980, 126)

Malthus fügt auch die Einschränkung hinzu: „wenn keine Hemmnisse auftreten“, womit er sagen will: potenziell. Wir wissen, dass die Natur in einer natürlichen Umgebung dafür sorgt, dass jede Generation einer jeden lebendigen Spezies einschließlich der menschlichen, Nachkommen (oder Samen) in einem viel höheren Maß als dem der Ersetzung produzieren kann. Man könnte fast sagen, dass dieser Überschuss dazu gedacht ist, der Spezies des jeweiligen Fressfeinds zum Opfer zu fallen, oder aus verschiedenen Gründen nicht überleben kann. Das ist ein Prozess, der als Hemmung des nummerischen Wachstums der Spezies der Beute funktioniert. Was die Menschen betrifft, so wissen wir, dass es immer noch Länder gibt, in denen die Bevölkerung sehr rasch wächst, weil die Hemmnisse des Wachstums sehr schwach oder gar nicht vorhanden sind. Und es gibt Länder, in denen die Bevölkerungszahl zurückgeht, weil die indirekten Hemmnisse dort, wie zum Beispiel hohe Kosten für ein besseres Leben, zu viele oder zu stark sind.      

Uns modernen Menschen ist es – dank unserer Intelligenz und dank raffinierter Werkzeuge und Waffen – gelungen, alle gegenwärtigen und potenziellen Gefahren zu bannen sowie alle möglichen und tatsächlichen Fressfeinde zu unterwerfen bzw. zu reduzieren, wenn nicht gar auszutilgen. Darin hatten wir so großen Erfolg, dass wir nun sogar einige Spezies, die uns potenziell Schaden zufügen könnten, wie etwa den Tiger, den Wolf und den Löwen, retten müssen. Doch abgesehen vom natürlichen Tod und einigen Naturereignissen außerhalb unserer Kontrolle (Erdbeben, Epidemien, unheilbarer Krankheiten, usw.) gibt es Gefahren und Ursachen einer Dezimierung, die wir Menschen selbst heraufbeschworen haben. Das sind die – wenn auch sehr schwachen –  Hemmnisse, die bis jetzt dafür sorgen, dass unsere Population nicht noch schneller wächst.

An erster Stelle unter diesen Hemmnissen sind Kriege aller Art zu nennen. Dann folgen Umweltverschmutzung und die globale Erwärmung, die zu Klimakatastrophen führt. Dies sind die am besten bekannten und anerkannten vergangenen und potenziellen Ursachen unserer Dezimierung. So schätzt man etwa, dass die Bevölkerung Mitteleuropas, das heißt aus dem Gebiet des damaligen Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, während des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) um etwa 45 % dezimiert wurde. Andere Schätzungen sprechen von acht Millionen Toten einer Gesamtbevölkerung, die 16 Millionen zählte. Und heute befürchten viele WissenschaftlerInnen, dass die globale Erwärmung, der Klimawandel, die Umweltverschmutzung und der Schwund der Artenvielfalt den Planeten für Menschen unbewohnbar machen könnten.[3] 

   

Der Genozid in Ruanda – ein Worst-case-Szenario im Malthusʼschen Sinne 

Wie recht Malthus hatte und wie viel die demografische Entwicklung immer noch mit der Dezimierung der Bevölkerung zu tun hat, kann am besten am Fallbeispiel des Konflikts zwischen Hutu und Tutsi in Ruanda  veranschaulicht werden, der im Jahr 1994 seinen Höhepunkt in einem Genozid fand, im Verlauf dessen etwa 800.000 Tutsi von den Hutu getötet wurden. Ich möchte hier nicht die ganze Geschichte dieses Genozids erzählen. Das haben viele kompetente Autoren bereits getan (vgl. Diamond 2006, 387–408; Diessenbacher 1998, 15–30). Stattdessen werde ich lediglich die Fakten und Zahlen hervorheben, die für meine Aussageabsicht relevant sind.

Im Jahr 1993 betrug die Bevölkerung Ruandas 6,84 Millionen und wuchs um 3,1 % pro Jahr. Die Menschen lebten auf einem Gebiet von einer Gesamtfläche von 26.338 km2. Mit 260 Menschen pro Quadratkilometer wies das Land eine der höchsten Bevölkerungsdichten der Welt auf. Die Fertilitätsrate betrug im Jahr 1993 6,5 Geburten pro Frau.[4]

Das fruchtbare Land Ruandas, ein angemessener Regenfall und das milde Klima sind recht günstig für das landwirtschaftliche Wachstum. Die Höhe, auf der das Land liegt, hielt die Malaria fern. Dennoch wurden die Vorteile all dieser günstigen Umstände durch die hohe Rate des Bevölkerungswachstums wieder zunichte gemacht. Im Jahr 1990 lebten etwa 94 % der Bevölkerung auf dem Land. Und die meisten von ihnen mussten in nicht landwirtschaftlichen Bereichen leben. Die Möglichkeiten, ein Einkommen außerhalb der Landwirtschaft mittels Berufen wie etwa Zimmermann zu erzielen, waren rar.

Aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte war die Größe der landwirtschaftlichen Betriebe klein bis sehr klein. Die großen Bauernhöfe wurden groß genannt, weil sie mehr als ein bis zwei Acres (0,4 bis 0,8 ha) umfassten. Die landwirtschaftliche Produktivität war aufgrund des Fehlens von Mechanisierung und anderen modernen Bewirtschaftungsmethoden niedrig. So pflügten zum Beispiel Bauern auf hügeligen Gebieten ihr Land den Hängen entlang und kannten offensichtlich die Vorteile des Terrassenanbaus nicht.

Als in den 1960er-Jahren und dann wiederum 1973 viele Tutsi getötet wurden oder flohen und ihr Land von den Hutu übernommen wurde, wuchs die Verfügbarkeit von Nahrung pro Kopf. Viele Hutu-Bauern dachten nun, dass sie genug Land hätten, um ihre Familien zu ernähren. Aber nach 1981 ging die verfügbare Nahrung pro Kopf allmählich wieder zurück und sank auf das Niveau von 1960. Das war zwangsläufig so, denn im Lauf dieser zwanzig Jahre hatte die Bevölkerung nicht zu wachsen aufgehört.

Familienplanung war in Ruanda nicht unbekannt. Es gab sogar ein Büro bzw. eine Behörde für Familienplanung. Doch sie war zu nichts nütze. Sie war hauptsächlich geschaffen worden, um es ausländischen Spenderorganisationen zu ermöglichen, Ruanda Entwicklungshilfe zukommen zu lassen. Und auch der negative Einfluss der katholischen Kirche war allzu stark. Jared Diamond zitiert Gerard Prunier, einen Wissenschaftler aus Ostafrika:

Die Entscheidung zum Mord wurde natürlich von Politikern aus politischen Gründen getroffen. Aber dass sie von ganz gewöhnlichen Bauern in ihrem ingo [Familienanwesen] so gründlich umgesetzt wurde, lag zumindest teilweise daran, dass auf zu wenig Land zu viele Menschen lebten und dass für die Überlebenden mehr übrig bleiben würde, wenn ihre Zahl sich verminderte. (Diamond 2006, 405)

Diamond zitiert auch zwei andere Beobachter, nämlich Catherine André und Jean-Philippe Platteau:

Die Ereignisse von 1994 boten eine einzigartige Gelegenheit, auch unter Hutu-Dorfbewohnern alte Rechnungen zu begleichen und den Grundbesitz neu zu verteilen ...Selbst heute hört man von Ruandern nicht selten die Ansicht, ein Krieg sei notwendig, um einen Bevölkerungsüberschuss zu beseitigen und die Zahl der Menschen in Einklang mit den zur Verfügung stehenden Landflächen zu bringen. (Diamond 2006, 404–405)

 

Beenden wir nun diesen Teil der Geschichte. Nach 1994 hatten viele Beobachter von außerhalb des Landes gedacht, dass der Genozid das Ergebnis einer tragischen Kulmination des jahrzehntelangen hasserfüllten Machtkampfes zwischen den beiden ethnischen Gruppen der Hutu und der Tutsi gewesen sei. Es kann nicht geleugnet werden, dass es diesen Machtkampf und diesen Hass gab. Das waren Tatsachen. Ebenso war es eine Tatsache, dass nach der Machtübernahme der Hutu verschiedene Fraktionen unter ihnen entstanden, die um die Vorherrschaft konkurrierten. Doch der Konflikt zwischen Hutu und Tutsi hätte nicht in einen solchen barbarischen Genozid münden müssen. Ich finde die Schlussfolgerung, zu der Jared Diamond kommt, überzeugend:

Ich selbst bin daran gewöhnt, Bevölkerungsdruck, von Menschen verursachte Umweltschäden und Dürre als letzte Ursachen zu sehen, die bei den Menschen zu chronischer Verzweiflung führen und das Pulver im Pulverfass darstellen. Man braucht aber auch einen unmittelbaren Anlass, einen Funken, der das Fass zur Explosion bringt. In den meisten Regionen Ruandas handelte es sich bei diesem Funken um ethnischen Hass, angestachelt von zynischen Politikern, die selbst an der Macht bleiben wollten. (Diamond 2006, 405)

     

Der Israel-Palästina-Konflikt

Seit Oktober 2023 sind wir Zeugen des Krieges zwischen Israel und der Hamas in Gaza. Auch in diesem Falle denken viele Menschen zunächst an ethnischen oder religiösen Hass als Ursache des langlebigen Konflikts. Einige sprechen auch von einem antikolonialen Befreiungskrieg vonseiten der Palästinenser.

Diese Gesichtspunkte sind natürlich zum Teil richtig. Doch die meisten Beobachter und Kommentatoren lassen die tiefere Ursache der Unlösbarkeit des Konflikts unerwähnt, dass es sich nämlich um einen Krieg um Geburtenraten handelt. Sobald ich mich ins Internet begab und nach der Rate des Bevölkerungswachstums der beiden ethnischen Gruppen suchte, fand ich die folgenden Zeilen, die ich hier wörtlich zitieren will:

Die geschätzte palästinische Bevölkerung weltweit hat sich seit der Nakba verzehnfacht und ist von 1,37 Millionen im Jahr 1948 auf 14,3 Millionen Mitte 2022 angewachsen. Davon leben 7,1 Millionen im historischen Palästina. Das sind 49,9 % der Gesamtbevölkerung, die sich aus Israelis und Palästinensern zusammensetzt.[5] 

Wächst auch die Bevölkerung Israels?

In diesem Krieg um Geburtenraten mag es wie eine gute Nachricht für Israel klingen, dass man bezüglich der Gesamtbevölkerung des Landes bis 2040 ein Wachstum um weitere zwei Millionen vorhersagt, womit sie zwölf Millionen erreicht. Doch die jüdische Bevölkerung wächst hauptsächlich dank einer Gemeinschaft, der Haredim oder der Ultra-Orthodoxen.[6]

Das heißt: Es gibt keine Lösung, bis die Bevölkerung beider Gruppen zu wachsen aufhört. Denn verfügbares Land und verfügbare Ressourcen in Palästina sind begrenzt.

 

Literatur:

Blanqui, Adolphe (1971), Geschichte der politischen Ökonomie in Europa, Bd. 2, Glashütten.

Catton, William R. (1980), Overshoot – The Ecological Basis of Revolutionary Change, Illinois.

Diamond, Jared (2006), Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, Frankfurt a. M.

Diessenbacher, Hartmut (1998), Kriege der Zukunft. Die Bevölkerungsexplosion gefährdet den Frieden, München.

Malthus, Thomas R. (1977), Das Bevölkerungsgesetz (nach der ersten Auflage London 1798), München.

Schriefl, Ernst (2021), Ökobilanz. Wo wir stehen, was zu tun wäre, wohin wir steuern. Ein Versuch einer nüchternen Bestandsaufnahme, Norderstedt.

Ullrich, Otto (1979), Weltniveau. In der Sackgasse des Industriesystems, Berlin.

Wallace-Wells, David (2019), The Uninhabitable Earth – Life After Warming, New York.



[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Estimates_of_historical_word_population (aufgerufen am 12. 7. 2024). In etwa den ersten zehn Jahrtausenden nach der neolithischen Revolution (die man etwa um 10.000 v. Chr. datiert) wuchs die Bevölkerung sehr langsam. Wenn es während dieser Zeit überhaupt ein exponentielles Wachstum gab, dann auf sehr niedrigem Niveau.

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Kreuzzug (aufgerufen am 12. 7. 2024).

[3] So kann man es bei David Wallace-Wells (2019) nachlesen, der viele hochrangige WissenschaftlerInnen interviewt hat, die zum Klimawandel und zur Umweltverschmutzung arbeiten.

[4] Daten der Weltbank: https://data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN?locations=RW (aufgerufen am 14. 7. 2024).

[5] Palestinian Academic Society for the Study of International Affairs, Factsheet Population: https://passia.org/media/filer_public/50/f1/50f1cdf6-42d6-430c-b5bc-1078b7ce5845/factsheet_population.pdf (aufgerufen am 14. 7. 2024).

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